Ab der Vorgartenstraße halte ich mir die Augen zu, damit ich nicht hinsehen muss, wie der U-Bahn-Waggon meinen Körper auf die falsche Seite der Donau bringt. Ich werde nie neutral in Kagran ankommen, ich kann die Rolltreppen nicht einfach runterfahren, ohne an Carina zu denken. Am allerhärtesten wird der Beton bleiben, der die Station aufrechthält, der sie umgibt wie Gras, und mich daran erinnert wie ich damals in meinem Miss-60-Rock nachts vor dem Würstlstand gekotzt habe.

Sie haben das Branding verändert vom Donauzentrum, es heißt jetzt Westfield Center, aber im Grunde leben dieselben Teenager von damals in seinem Innersten. I am every teenager auch ohne Bauchnabelpiercing. Ich frage mich, wer von ihnen diesen Bezirk einmal verlassen wird, und wer hier später trotz Studienabschluss wohnen bleiben und mit seiner Langzeitbeziehung in eine Genossenschaftswohnung ziehen wird.

Niemand hätte mir den Sprung ins Ausland damals angesehen, deshalb spare ich mir mein Urteil und versuche bei der 4-für-3-Buchaktion auch mal Sylvia Plath in den Einkaufswagen zu schmuggeln; ich versuche den geringen Einfluss, den ich habe, auszuleben, während mir nichts anderes bleibt als von der zahlenden Kundschaft als eine dreißigjährige Verkäuferin wahrgenommen zu werden, die ihr Leben bereits hinter sich hat; die nichts anderes zu sagen hat als „Kundenkarte bitte“, weil keine eigenen Sätze und Wörter und Gedanken für ihre Position vorgesehen sind.

In der Mittagspause laufe ich so schnell es geht zu Hema, um Weingläser zu kaufen; alle fünf Minuten checke ich die Uhrzeit, damit ich weiß, wie weit ich mich von meinem Gefängnis wegbewegen darf.

Ich habe noch zweiundzwanzig Minuten, um ein Grillhendl mit Kartoffelsalat in mich hineinzuschieben und vier weitere Stunden gedankenverloren an früher zu denken, an eine Zeit, wo ich noch mit Janine befreundet war, die mit einem grünen Weihnachtspullover an der Selbstbedienungskasse steht und nicht eindeutig identifizierbare Güter scannt. Ich habe versucht, mich so gut es geht vor ihr zu verstecken, weil sie damals genauso wie ich gerne kurze Miniröcke trug und zu viel Bacardi Cola trank, weil wir zu oft gemeinsam in ihrem Auto aus dem 10. zurück nach Donaustadt fuhren und dann fünf Minuten zu spät in den Matheunterricht kamen, und die bürgerlichen Lehrerinnen konnten nie verstehen, warum wir beiden zu spät waren, und warum wir so nach Rauch stanken und warum Janine nie die Hausaufgaben fertig hatte, weil sie das ganze Wochenende arbeiten und feiern musste, weil sie eben nur dieses eine Mal gleichzeitig arm und jung war.

Um neun Uhr fangen die Pensionistinnen an, ihr Kleingeld an mir auszulassen, sie bestrafen meine schlechten Lebensentscheidungen mit Ein- und Zwei-Cent-Münzen, um damit Ramsch aus China zu bezahlen, den sie ihren Enkelkindern schenken; sie glauben, es wäre okay, mir das Kleingeld zu geben; sie denken, ich bin eine gutgelaunte Bank, ich kann damit etwas anfangen, ich möchte sie freundlich begrüßen und ihnen einen schönen Tag wünschen; und manchmal tue ich das tatsächlich; ich hoffe wirklich, dass die Damen mit den tiefsten Falten und rotesten Lippenstiften den besten Tag ihres Lebens haben, der im Donauzentrum beginnt und im Donauzentrum endet.

Ich hoffe, dass sie an einem Tag so viel konsumieren, wie im gesamten Jahr 1973; dass sie auch endlich etwas vom Kapitalismus haben, jetzt, wo sie alt sind und ihn bedingungslos genießen und an ihm partizipieren können.

Alles an diesem Bezirk und seinen Menschen ist mir fremd, obwohl, oder gerade, weil ich hier aufgewachsen bin. Die Menschen in Wien Donaustadt haben ganz normale Leben, kommt mir vor, wenn ich hier bin. Keiner interessiert sich für das, was ich in Berlin mache, die meisten sind nie dort gewesen, viel zu weit weg, viel zu viele Drogen, und was ist mit den ganzen Ausländern? “Ist das nicht gefährlich?“, fragen sie, während sie das dritte Bier in einem heruntergekommenen Wirtshaus namens Hansi bestellen, das in einen alten Chinesen hineingebaut wurde, um die Pagoden herum, aber es interessiert hier niemanden, solange es Schweinsbraten All-You-Can-Eat-Buffets gibt.

Ich schaue auf die Hinterseite meines rechten Unterschenkels und frage mich, warum ich mir wie Yung Hurn 1220 habe tätowieren lassen nur viel kleiner, ob ich tatsächlich irgendetwas gespürt habe, während die Tätowiererin die Zahlen unter meine Haut geritzt hat. Ob ich mir damit selbst etwas beweisen wollte.

Je länger ich in Wien Donaustadt bin, desto weniger stelle ich mein Leben in Deutschland in Frage; jeden Tag, den ich nicht hier verbracht habe, streiche ich geistig in meinem Kalender als einen erfolgreichen an, selbst, wenn ich absolut gar nichts vollbracht habe, außer weggegangen zu sein.

Wien Donaustadt hat seinen ganz eigenen Rhythmus, der eigentlich nichts mit Wien zu tun hat; in Wien Donaustadt sind die Wege frei für Familienwägen, für die SUVs, die geleasten Audis, die vor den Reihenhausdoppelhälften geparkt oder in die Garagen gestellt werden, bis der nächste Tag pünktlich um 6:30 mit einem schrillen Weckerton anfängt, bis sich die Autokarawane wieder über den Biberhaufenweg oder die Erzherzog-Karl-Straße Richtung Autobahn bewegt. Bis eine gestresste Zweifach-Mutter nach der Arbeit ins Donauzentrum Westfield Center muss, um für ihre Kinder diese Stifte mit der schwarzen Katze zu kaufen, die gerade in sind und darfs noch ein Packerl Pokémon Karten sein oder ein Sackerl dazu.

Es ist unheimlich, irrelevant zu sein; es ist ein Vorgeschmack auf später, selten habe ich so oft über den Tod nachgedacht, wie in diesem einen Monat im Donauzentrum; immer wieder dachte ich mir, und wenn ich alt bin, dann gehe auch ich noch einkaufen und muss mich an einem Sudoku erfreuen, weil das mein Tageshighlight ist, denn alle haben mich verlassen, mein Mann, meine Kinder, meine Enkelkinder, alles, was mir bleibt, ist Sudoku und ein rabattiertes Buch einer schlechtübersetzten amerikanischen Erfolgsautorin für 5,99; das wird mein Alltag sein, und ich werde eine Brille mit fettem Rahmen tragen, und stolz mit Hundert-Euro-Scheinen bezahlen, und ich werde nach meiner Kundenkarte kramen, und sie nach vierzig Sekunden nervenaufreibender Spannung doch noch im hintersten Eck meines Ledergeldbörsels finden, und ich werde nach Hause fahren, mit meinem Sudoku und dem Roman und einen guten Tag haben.

Fotos by: Tauralbus (CC BY 2.0)

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