Nachdem ich die letzten drei Tage brav (ab)gesessen und zugehört habe, was die Crème de la Crème der Internetzcommunity so zum Besten gibt, wäre es meinen aufmerksamkeitsgeilen Gefühlsregungen aus dem Filter-Bubble-Epizentrum nach zu urteilen wieder an der Zeit, selbst etwas zum, nunja, Diskurs beizutragen.

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Wie würde ich die re:publica jemandem erklären, der die Convention nicht kennt? 6000 Menschen aus dem weitgefassten Bereich „Irgendwas mit Medien“ pilgern während ihrer Arbeits- oder noch besser Urlaubszeit nach Berlin, um sich rund um das Festivalgelände gegenseitig zu beweihräuchern und dabei über das Gesehene zu (micro)bloggen. Es gibt 300 (!) Stunden Programm, so viel Zeit habe ich während meines gesamten Studiums nicht in Vorlesungen gesessen. Die unausgeschlafene re:publica Besucherin hat für die Auswahl und den Besuch der Sessions immerhin 3 Tage a zehn Stunden Zeit. Man reiche mir den Zeitumkehrer.

Stage 2, Stage 7 oder doch Stage 10? Es geht überall um das, worüber die medienkompetente twitter-schickeria sonst auch so berichtet und sich nächtens den Kopf zerbricht. Über die Chancen und Herausforderungen von Live-Berichterstattung, zum Beispiel, oder die Zukunft des Journalismus. Blogging, Vlogging, Sharing. Es geht um Crowdfunding, und wie man es dann bitteschön nicht machen soll, wenn das Geld zusammen ist. Auf Stage 2 hagelte es heute herbe Kritik aus dem Publikum an den krautreportern. Wie, die Krautreporter sind nicht links? Surprise, surprise.

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Es geht um hypes, hypes und superhypes, Männer sitzen auf Stühlen und lehnen sich gekonnt zurück, sie haben es schon geschafft, auf die Bühnen der re:publica und die Social Media Redaktionen dieses Landes. Menschen erzählen locker flockig aus ihrem Alltag als Community Manager, als Mommybloggerinnen, als CMS-Zähmerinnen, als Chefredakteurinnen, als Start-up Gründerinnen und Aktivisten. Darf ich Fotos meiner Kinder ins Internet stellen? Freundschaften zerbrechen.

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Alle dreißig bis sechzig Minuten verlässt man seinen Sitzplatz (falls man denn einen ergattert hat) um sich zu einer der anderen Stages zu bewegen, obwohl man den Einstieg bereits verpasst hat. Völkerwanderung, New Balance statt Dr. Martens. Dann wird maximal zehn Minuten zugehört und genickt – Fragen bitte erst am Ende – bevor man das Arbeits- und Kommunikationswerkzeug seines Vertrauens wieder liebevoll in die Hände fasst. Meine Aufmerksamkeitsspanne ist die re:publica über konstant niedrig. Nirgendwo fällt die eigene Smartphonesucht weniger auf als hier.

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Heute, am dritten Tag, sind die Hallen deutlich leerer. Es muss das gute Wetter sein, oder die Übersättigung. Man wird müde, vom PR-Gelaber diverser Streaminganbieter. Ja, ja, trotz sinkender CD-Verkäufe bleiben die Deutschen Haptiker. Wir wissen, dass Streamingdienste die kapitalistisch dringend notwendige Antwort auf mühsames illegales Saugen waren. Teenager sind in den Augen vieler Vortragender nach wie vor eine „lost generation“, deren naives Youtuber-Leben („Oh kuck mal, wie geil ist das denn!“) man trotz all der kritischen Distanz in einem Saal mit 300 Menschen auf einem Riesenbildschirm vorführt. Fast wie zuhause, nur ohne Popcorn.

Digital, das Wort fällt genauso oft wie Datenschutz, Urban, Netzneutralität, Nachhaltigkeit und Innovation – ohne das bereits inhaltsanalytisch überprüft zu haben. An dieser Stelle darf man ruhig kritisieren: Und das wundert dich? Hallo, du bist auf der re:publica, würdest du lieber Vorträge über Immobilienrecht hören?

Es wird anstrengend, dieses tagelange Rumsitzen und Sessionsabwarten und anstellen. Wir befinden uns mitten im Filter Bubble Epizentrum. An der Willkommenssäule versucht wahrscheinlich gerade jemand unauffällig seinen Web Development Firmensticker anzubringen.

Jeder Diskurs wurde schon zig-mal durchgelutscht und weitergereicht, hier eröffnet sich quasi die letzte Möglichkeit ebendiesen physisch auf ein Podium zu heben, ein paar Tweets und Grafiken zur Visualization einzubetten und mit drei bis vier möglichst heterogenen Branchenprotagonist_innen auf seine Vor- und Nachteile abzuklopfen. Nicht wenige Besucher_innen (entnehme ich twitter und persönlichen Gesprächen) sind enttäuscht, von der fehlenden Liebe zum Detail. Manche Vorträge wirken, als ob sich die Redner_innen gerne einmal selbst im Fernsehen erleben würden. Oder einfach keine 190 Euro zahlen wollten. Nachvollziehbar.

Man möchte so gerne und man möchte so viel, Asiapfanne mit Hühnchen oder doch einen vegetarischen Burger? Der x-te Talk über Anonymität und Meinungsfreiheit im Internet oder lieber „Mensch, Macht und Maschine?“ Noch bevor die Talks anfangen, kann man die einleitenden Worte zur Powerpointpräsentation aus sicherer Entfernung riechen. Digital first. Better today than tomorrow. The system is broken.

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Partizipation findet vorwiegend in Form von tweets statt, die aufgrund der Menge (2014: 97.000 Tweets) leicht überlesen werden. Wer weiß, vielleicht ist es im Raucherhof anders? Ansonsten sitze ich gerade an einem der Tische, die hier zum co-working-spacing zusammengeschoben wurden. Ich weiß nicht, wie mein Gegenüber heißt, sein macbook verdeckt das Namensschild. Ist das die Anonymität, von der alle sprechen?

Die re:publica ist eine Stundenwiederholung der letzten zwölf Monate. Schon in der Schule habe ich mich über diese Form der Lehrstoffauffrischung gefreut, sofern mich niemand drannahm: Sie festigt das Wissen, hin und wieder hört man Aspekte, die einem entgangen sind und hey, man kann nach der dritten Diskussion zu community finanziertem Journalismus mit ein bisschen rhetorischer Schulung bestimmt selbst bald als Expertin auf dem Gebiet durchgehen. Werden uns künftig Roboter die Arbeit stehlen? Ist das Internet kaputt? Welchen erschreckenden Einfluss hat Big Data auf unser Leben? Ja, ja, ja!

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Manchmal wünsche ich mir, weniger Zeit im Internet zu verbringen. Von all dem nichts mitzubekommen.

PS: Vergesst was ich gesagt habe, ich liebe das Internet.
PPS: Besonders toll war es mit @makellosmag @schlimes, @isayshotgun

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