Wien – grau in grau.

Schon als wir am Donnerstag die Grenze zu Tschechien überqueren, klatscht mir das Scheißwetter gegen die Scheibe. Und es hat sich seither auch nicht wieder verabschiedet.

Symboldbild Kagran
Symbolbild Tristesse Kagran

Es regnet, wenn ich das Haus verlasse – und auch drinnen scheint bekanntlich nicht die Sonne. Am zweiten Tag nach meiner Ankunft wird in der ZIB der harte Lockdown verkündet. Die Stimmung rutscht noch ein Stückchen weiter Richtung Endzeitstimmung. Dabei war ich so lange nicht mehr hier. Wegen Corona. Dabei hatte ich mich so auf eine Auszeit in Österreich gefreut.

Auch Silvester soll man jetzt bitte drinnen verbringen und ich frage mich, wie ich noch etwas schreiben; wie ich noch etwas spüren soll, wo ich seit Monaten nichts mehr erlebt habe. Irgendwo zwischen den Jahren ist mir so ganz natürlich die Kreativität abhandengekommen.

Ich versuche es trotzdem mit Tagesausflügen nach Kagran und spaziere an meiner alten Trainingshalle am Rennbahnweg vorbei. Wie viele Stunden ich dort wohl schon Bälle gegen die Wand geknallt und mich von alten Lustmolchen hab begaffen lassen.

Wer schon mal in Kagran war, weiß, wie hässlich die Betonkulisse ist, die sich bis nach Leopoldau zieht. Jede Haltestelle ein Trauerspiel, jede Hochhaussiedlung eine Erinnerung an billigen Vodka, Davidoff Cool Water und Malcolm Mittendrin.

Der einzige Hoffnungsschimmer ist (damals wie heute) mein Auto und die damit verbundene Möglichkeit, ein wenig Abstand auf der A22 zu gewinnen.

Pic by Melanie Ziggel

Ein neues Album anzumachen, das – wie soll es auch anders sein – natürlich im Zeitgeist von Corona entstanden ist. Oder ein Hörbuch, bei dem ich nicht sofort einschlafe. Suche ich in Audiotheken nach neuen Produkten, fällt mir wieder auf, dass es zu jedem gottverdammten Thema bereits hunderte Bücher gibt, die ich nicht gelesen habe. Gerade groß im Kommen: Selbsthilfe-Guides zu Angststörungen & Co.

Ich merke: Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich für ein neues Jahr keine großen Projekte geplant habe. Kein Buch. Keinen Blog-Relaunch. Keinen Content-Creation-Kurs und keine Academy. Ich habe keinen Elan und auch keine Lust, Methoden zu lehren um in dieser kranken Welt ein paar Follower zu generieren.

Es ist dieses generelles „Mäh“-Gefühl, das nicht nur mit meinem Beruf zu tun hat. I give a „Näh“ zum Essay über irgendein banales Gefühl, das ich zu Weihnachten am Küchentisch haben werde, ein „Nein“ zu einer Anthologie mit Autorinnen, wo ich am Ende wieder alles alleine wuppen muss, obwohl das Thema eigentlich cool wäre. Ein „Nope“ zur Erstellung von Kursunterlagen und Pitches an Universitäten. Ein „Nein“ zum Beantworten von Mails und ein „Mäh“ als Begrüßung des neuen, uns bevorstehenden Jahrs.

Es ist für mich ganz einfach nicht die Zeit, um an solche Dinge zu denken. Es klappt nicht mehr, mich damit „abzulenken“.

Ich habe ja sogar die Lust an Romanen verloren. Die meisten Geschichten holen mich nicht mehr ab (wie man so schön sagt), weil sie in einer Zeit vor der Pandemie spielen, weil sie sich im Verhältnis zu unserer jetzigen Realität um irrelevante, konstruierte Familienprobleme am Land, auf dem Dorf oder in der Stadt drehen und mich meist schon nach der fünfzehnten Seite mit einem weiteren „Mäh“-Gefühl zurücklassen, woraufhin ich den Roman zu- und nicht wieder aufklappe.

Ich kann mich meist nicht mal mehr auf den Inhalt konzentrieren. Die Seiten verschwimmen vor meinem Auge, ich schweife ab, ich komm gar nicht erst rein. Also fange ich an, zu skippen. Das Uninteressante zu überspringen, als wär’s eine Univorlesung. Bis ich merke, dass alles uninteressant wird, wenn ich ständig weitervorspule. Die Geschwindigkeit auf 1,25 stelle, damit ich nicht noch länger mit diesem Geplänkel belästigt werde.

Es interessiert mich schlicht nicht, welche kruden Dialoge sich irgendein rising star aus der hiesigen Literaturszene aus seinem Anus zieht.

Es ist nicht meine Realität. Es ist nicht meine Welt. Es sind nicht meine Gedanken, die ich so sortieren kann. Ich kann kein Prosa über dein liebgewonnenes Hobby genießen, wenn ich jeden Tag Nachrichten über Kriege, Lager, Virenmutationen und nahende Rezessionen sehe. Und auch, wenn ich mal zwei Tage keine Nachrichten lese, ist mir der Zustand unserer Welt doch wohl weiterhin bewusst. Das ändert sich auch nicht, wenn ich mal das Handy auslasse. Irgendwann muss ich es ja auch wieder anmachen, also warum sich etwas vormachen.

Ich bin nicht die Einzige, die ihren shit im dritten Lockdown so langsam verliert.

Bis hierher war es noch gerade so okay, im Frühling habe ich mein zweites Buch lektoriert und unterrichtet. Im Sommer war ich ständig weg.

Aber dieser Herbst, dieser Winter ist das Tüpfelchen auf dem i der nichtendenwollenden Langeweile, Höchstwerten und kollektiven Lethargie.

Diese Jahreszeit war lange meine liebste, weil ich wieder auf Ausstellungen und Parties gehen konnte. Auf Lesungen und Geburtstage. Ich mochte es, mich in meinen schicksten Mantel zu werfen, Lippenstift aufzutragen und das Treppenhaus in meiner Wohnung in Berlin runterzulaufen, weil ich definitiv zu spät dran sein und die U-Bahn verpassen würde.

Ich vermisse es, Menschen in ihren schillerndsten Outfits der U8 zu beobachten; diese kurzen Blicke auszutauschen, die auf eine vielversprechende Nacht hindeuten.

Stattdessen esse ich jetzt um 10:42 an meinem Schreibtisch im Kinderzimmer Chips und schreibe diesen Text. Er sollte eigentlich vom Ausflug an den Semmering handeln, aber ich hatte keine Lust schöne Worte für matschigen Schnee zu suchen. Ich wollte einfach losschreiben, und das hab ich jetzt getan. Und ja, es war eh schön. Sehr schön sogar, eine richtige Abwechslung zum tristen Drinnenbleib-Großstadtalltag, der uns allen schon zum Hals raushängt. Anders als viele Deutsche denken, besteht Österreich nämlich nicht nur aus herzigen Häuschen auf Hügeln. Ich komme aus der Hauptstadt, und sehe Berge erste nach einer anderthalbstündigen Autofahrt.

Beim Wandern mit einem Freund, der mich auf halbem Wege zwischen Wien und der Steiermark am Skilift-Parkplatz trifft, merke ich, wie sehr mich seine Anwesenheit erheitert.

Wie sehr Freundschaften und das gemeinsame Zeitverbringen zwischen beruflichen Verpflichtungen und Love-Interests unterschätzt wird. Dass „Freunde haben“ nicht nur etwas ist, das auf WhatsApp stattfinden sollte. Dass es einen Unterschied macht, in ein bekanntes Gesicht zu sehen und dabei die Geschichten der letzten Monate Face-to-Face zu besprechen, statt in einer Voice am Klo.

Aber wem erzähle ich das.

Ich spüre meine Waden heute dank gestern. Wir wollten eigentlich zum Sonnwendstein, haben es dann aber nur bis zur Gondelendstation geschafft.

Wir wollten eigentlich zusammen Silvester feiern, haben aber angesichts der Verbote lieber einen halben Tag an der frischen Luft gewählt.

Wir wollten eigentlich längst fertig mit der Krise sein, bekamen aber nur weitere, kurzfristige Maßnahmen verhängt.

Wir wollten so viel.
Wer weiß. Vielleicht haben wir ja schon mehr geschafft, als wir denken.

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