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Nadine Kegele hat sich etwas vorgenommen und durchgezogen. Das liest man nicht nur, das sieht man auch an den zahlreichen Stipendien und Auszeichnungen, die sie in den letzten Jahren erhalten hat – vom Staatsstipendium für Literatur bis zum Ingeborg-Bachmann-Publikumspreis. Dass die Jungautorin stolz darauf ist, kann man ihr nicht madig machen. Die reformbedürftigen österreichischen (Bildungs)zustände, die sie beinahe unterschwellig in den Plot von “Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause” integriert, konnte sie im Laufe ihres Lebens aus erster Hand erfahren. Wer in gewissen Szenen auf gewisse Parties geht und nicht sagen kann, dass er oder sie studiert, wird schief angesehen. Also doch studieren. Zweiter Bildungsweg und anschließend ein Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Gender Studies dranhängen. Damit es auch im Lebenslauf steht, wer hört einem sonst schon zu, wenn man zu sozialpolitischen Fragen zwar keine maßgeschneiderten Antworten, aber immerhin gut dokumentierte Erfahrungswerte aufweisen kann. Nadine Kegele hat sich die Zeit genommen mir einige Frage zu ihrem Buch zu beantworten, die mir während der Lektüre in den Kopf geschossen sind.

Als Leserin hatte ich den Eindruck, dass du sehr viel Persönliches in diesen Roman eingebracht hast. Immer wieder spielst du mit Klischees des Bildungsbürgertums. Du machst deutlich, dass Nora es aufgrund ihrer benachteiligenden familiären Situation schwerer hatte als ihre Freundinnen. Hast du während deines Bildungsweges (journalistisch definitiv überstrapaziertes Wort) selbst erfahren müssen, inwiefern die eigene soziale Herkunft den künftigen Beruf prädestiniert?

Das Klischee, dass ein Bildungsbürgertum sich seiner Privilegien mitunter nicht bewusst ist und danach agiert? Nora spürt die Ungerechtigkeit eines Gesellschaftssystems, das die Partizipation nicht für alle gleichermaßen ermöglicht, das herrschende und besitzende Klassen bevorzugt, macht aber den Fehler, Schuldige zu suchen in einzelnen Systemgewinner_innen, anstatt diese Wut fruchtbar zu machen. Für einen gerechteren Blick auf die Individuen (und auf sich) hat sie die Figur der Kaiserin an die Seite gestellt bekommen. Das Freundinnenkleeblatt bringt ihr ja auch Glück, doch der Blick auf das Glück ist verstellt. Und für den Ausdruck ihrer gerechten Wut gegen ein Gesellschaftssystem, das jene bevorzugt, die ökonomisch abgesichert sind, die Wahlmöglichkeiten und Zugang zu Wissen haben, müsste Nora einen anderen Ausdruck finden. Ich habe einen Ausdruck gefunden, als mittlerweile an Wissen Teilhabende, mit Armutserfahrung, als Schriftstellerin. Einen Blick, der im Hochschul- oder Literaturbetrieb leider selten ist (bzw. gemacht wird), den „von unten“, jenen mit Klassismuserfahrung. Das ist meine Stimme: Ich bin weiß, d.h. mir kommen Privilegien zu in einer rassistischen Gesellschaft, die auf meiner Hautfarbe begründet sind. Ich bin eine Frau, d.h. ich erfahre bewusst und unbewusst Misogynie und Sexismus. Ich bin im gebärfähigen Alter, d.h. bei der Arbeitssuche werde ich die nächsten Jahre als wirtschaftliche Gefahr eingeordnet. Ich bin eine „Bildungsaufsteigerin“, d.h. ich habe heute einen für meine soziale Herkunft in diesem Gesellschaftssystem unwahrscheinlichen Bildungsweg. Das alles bringe ich in mein Schreiben ein.

 

Wann war für dich der Punkt erreicht, zu sagen: Jetzt reicht es. Ich werde studieren. Und sei es nur um zu beweisen, dass ich später ebenso Beauvoir und Ibsen aus dem Ärmel zitieren werde wie ihr. War das Studium zu irgendeinem Zeitpunkt eine Art Trotzreaktion auf die festzementierte „Du gehst in die Hauptschule und machst dann eine Lehre, ich gehe ins Gymnasium und studiere später Jus“-Mentalität?

Woher soll ich de Beauvoir oder Ibsen gekannt haben, das und dass es ein gewisser Habitus ist, Denker_innen zitieren zu können, war kein mir zugängliches Wissen. Meine Bildung war eklektische Bildung, ein bisschen Hauptschule, viel fernsehen, zum Glück wurden im Fernsehen Bücher vorgestellt, das war eine magische Welt für mich, war eine Vergrößerung dieser meiner Welt mit der so niedrigen Decke, ich habe mich der Literatur und dem späteren Studium zuerst autodidaktisch genähert. Mein Glück war eine funktionierende Antenne für Ungerechtigkeit (zumindest für die Ungerechtigkeiten, die ich erfahren habe). Und Zugang zu Wissen ist ungerecht in unserem Bildungssystem. Die erste Ahnung überkam mich bei der Selektion Ende der Volksschule. Als Kind versteht man nichts von systematischen Ungleichheiten. Ich wusste bloß, wir sind arm, es ist nie genug Geld da, wir sind zu viele Kinder für so wenig Geld. Mir wurde erst nach und nach bewusst, dass ich (vom Bildungssystem und von der Familienmeinung) als frühe Arbeitskraft vorgesehen bin, dass die Voraussetzung für mehr Schul- und überhaupt Studienjahre ökonomische Bewegungsfreiheit ist, sowie Lenkung durch Erziehungspersonen und eben der dafür notwendige Schulabschluss.

Die Bürolehre war ein Muss, sie war nicht das schlechteste Muss, aber auch keine Freiwilligkeit, wobei ich mich aus taktischen Gründen gegen eine Buchhändlerinlehre entschied, ich ahnte, in der Stadt gibt es Buchhändler_innen genug.

Meine Arbeitsjahre waren wertvolle Jahre für mein Selbstvertrauen, aber leider haben sie mich auch versaut: Umso länger und besser ich arbeiten kann, umso mehr bin ich wert, und bekomme ich Lob, darf ich doch nicht um gerechtere Entlohnung betteln. Ich habe erlernt, für alles, das an „Mehr“ über mir ausgeschüttet wird, dankbar zu sein, nichts zu fordern. Mit Erlerntem muss man brechen, fordern kann ich jedoch immer noch schlecht, ich lerne das neu. Außerdem erlernt habe ich, dass das Bildungsbürgertum höher steht und ich gefälligst aufzublicken habe, diese Ansicht konnte ich in meinen Studienjahren und in meiner bisherigen Zeit im „Literaturbetrieb“ schnell zurechtrücken, denn Wissen schützt nicht vor Unprofessionalität, Korruptionsbereitschaft oder menschenverachtenden Ansichten. Mein Zweiter Bildungsweg im Abendlehrgang und das anschließende Studium war also weniger Trotzreaktion, als vielmehr der Wunsch, für mich die Gerechtigkeit herzustellen, die ich als Kind hätte erfahren wollen, die jeder Mensch erfahren sollte, ich wollte immer Deutschlehrerin werden (der einzige Beruf, den ich mir mit meinem Lieblingsschulfach denken konnte). „Du gehst in die Hauptschule und machst dann eine Lehre, ich gehe ins Gymnasium und studiere später Jus“, ist ja außerdem die falsche Stimme, die spricht, das sagt ja kein Kind zu einem anderen Kind aus Überzeugung, das sagen Vertreter_innen eines erlernten Gesellschaftssystems, und das ist auch keine Mentalität, das ist institutionalisierte Elitenbildung.

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Nora fühlt sich im Vergleich zu ihren Freundinnen in gewissen Belangen minderwertig. Findest du, das ist berechtigt?

Es ist nie berechtigt, sich minderwertig zu fühlen.

Minderwertigkeit ist eine Folge von Scham über die eigene Position, die als nicht so wertig wie andere Positionen empfunden wird. Das ist die individuell erlebte Folge von Hierarchien, die zwischen Menschen in einem nach Wertigkeiten funktionierenden Gesellschaftssystem hergestellt werden. Das Gefühl ist erlebte Wirklichkeit, aber nicht die ethische Wahrheit, an die ich glaube. Und das lasse ich Nora schmerzhaft verhandeln.

Bourdieu schreibt in seiner sozialen Feldtheorie, dass man Menschen, die im Laufe ihres Lebens sozial aufgestiegen sind, ebendiese Mühen ansieht. Dass man weiterhin unterscheiden können wird, wer mit sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital geboren wurde – wie beispielsweise Noras Freundin Vera, die als Erbin eines Sekt-Imperiums in die Welt geboren wurde – und wer es sich selbst erarbeiten musste. Stimmst du dem zu?

Ich glaube, die Sensoren sind bei „Aufsteiger_innen“ gut entwickelt für diese unterscheidende Sicht, mind the gap, zum Glück. Vielleicht ist das wie lesen können: Erblicke ich Buchstaben, dann lese ich, nachdem ich lesen gelernt habe, automatisch, ich kann nicht mehr nicht lesen. Vielleicht gibt es dann zwei Möglichkeiten des Umgangs mit diesem automatisierten Blick auf die Kluft/en: Ich weiß um die Ungleichheit des Kapitals und setze dieses Wissen für die Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit ein, das wäre politisch. Ich weiß um das ungleich höhere soziale, kulturelle oder ökonomische Kapital, möchte aber nicht auffallen als jemand, die diese Hegemonialstellung ursprünglich nicht besaß, möchte bloß „dazugehören“, dann ist dieses Wissen für ein individuelles „Passing“ leider vergeudet, das wäre unpolitisch.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es schwer ist, Persönliches aus dem Geschriebenen völlig herauszuhalten. Alles, was ich erlebt habe, kann ich authentischer und packender schildern, als Fiktives. Geht es dir dabei genauso? Findest du, dass der Einbezug von Persönlichem auch gewisse Gefahren birgt?

Ich finde es auch gar nicht nötig, Persönliches aus Geschriebenem herauszuhalten, meine Literatur darf meine persönliche Schatzkiste sein. Und man muss auch nicht alles, worüber man schreibt, selbst erlebt haben, es gibt ja noch die Fantasie und Empathie. Aus einer literarisch- ergebnisorientierten Sicht heraus finde ich es schwerer über Persönliches zu schreiben, da es den Blick oftmals verstellt oder die Gefahr einer vorgefertigten Aussage, die damit getätigt werden soll, besteht, Abrechnungsliteratur eben. Persönliches sollte reflektiert worden sein, um in alle Richtungen offenes Material darzustellen. Für alles andere gibt es immer noch die Autobiografie. Gut dafür ist, mit einer Frage in die Textproduktion zu gehen, oder mit noch offenem Ende, Persönliches auf charakterlich unterschiedliche Figuren aufzuteilen, anstatt es ein Alter Ego wiederkäuen zu lassen, das gut wegkommen muss. In „Annalieder“ habe ich viel Persönliches niedergeschrieben, in den „Eidechsen“ sogar sehr viel, habe das aber collagiert, es auf literarische
Figuren oder Situationen aufgeteilt, damit eine Mehraussage zustande kommt, und füge Erfundenes, literarisch zusätzlich Notwendiges hinzu. Man darf wohl in der Literatur nicht auf Erlebtem bestehen, für mehr als einen Erlebnisbericht muss das Persönliche beweglich werden.

Wie viel Passion muss in einer Autorin stecken, um das Durchhaltevermögen aufzubringen einen zugleich feministischen als auch sozialkritischen Roman fertigzustellen?

Das ist kein Durchhalten-Müssen für mich, sondern ein Muss.

Nadine Kegele

Foto: © Nora Gottardi 

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