Wer zu Caroline Darians Buch greift, tut das hoffentlich nicht unvorbereitet. Schon der Titel „I Will Never Call Him Dad Again“ kündigt an, dass hier keine gewöhnliche True-Crime-Erzählung wartet, sondern ein Text, der Leserinnen tief in eine private Hölle führt – ohne Filter, ohne den Trost der Distanz.

Was Darian erzählt, sprengt jedes konventionelle Verbrechensnarrativ: Mindestens acht Jahre lang setzte ihr Vater ihre Mutter, Gisèle Pelicot, unter Medikamente und ermöglichte systematische sexualisierte Gewalt durch Dritte – organisiert, geplant, durchgeführt innerhalb der vermeintlichen Sicherheit der Familie.

Lang lebe die Familie

Bis zum November 2020 lebte Caroline Darian in dem Glauben, Teil einer liebevollen, intakten Familie zu sein: zwei Brüder, Schwägerinnen, ein cuter Ehemann – inklusive gemeinsamer Ferien im Haus der pensionierten Eltern in der Provence.

Die Enthüllung des Verbrechens stürzt Darian dementsprechend nicht nur emotional, sondern auch strukturell in den Abgrund – und markiert den Beginn ihres Buches. Sie fragt sich:

Wie konnte ich so blind sein? Wer ist mein Vater wirklich? Warum hat niemand etwas bemerkt, selbst, als wir alle vor Ort waren?

Was folgt, ist eine radikale, subjektive Chronik aus Ich-Perspektive. Das macht den Text so eindringlich: Caroline schreibt nicht über ihre Geschichte – sie ist ihre Geschichte. Es gibt keine journalistische Zwischenschicht, keine rationale Stimme der Aufbereitung.

Darian entzieht sich fremden Erzählungen und bringt die Deutungshoheit dorthin zurück, wo sie oft genommen wurde – zu den Betroffenen selbst.

True-Crime vs. Der Fall Darian-Pelicot

Gerade darin liegt die literarische wie politische Sprengkraft des Textes. Im Gegensatz zu etablierten Formaten des Genres, die häufig auf dramaturgisch inszenierte Retrospektive und externe Beobachtung setzen, beansprucht Darian die narrative Autorität vollständig für sich. Während klassische True-Crime-Formate meist im Moment des Aufdeckens enden oder sich im kriminalistischen Detail verlieren, geht Darians Buch einen entscheidenden Schritt weiter.

Sie zeigt, was danach geschieht:

  • Wie sie in die Psychiatrie kommt.
  • Wie sie ihrem Sohn erklären muss, dass er seinen Großvater nie wieder sehen wird.
  • Wie sie auf der Polizeiwache erfährt, dass auch Fotos von ihr auf dem Rechner ihres Vaters gefunden wurden.

Und wie sie beginnt, sich öffentlich gegen Chemical Submission einzusetzen. Jene Form verdeckter Gewalt, die mit K.o.-Tropfen, Medikamenten, Schlafmitteln oder anderen Substanzen arbeitet und in der Gesellschaft nach wie vor syst…

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