Leute, ich sag’s euch: dieser Sommer killt mich. Ich zähl ja zu diesen Menschen, die sich extra keine neuen Klamotten für den Sommer kaufen, weil sie den ansonsten maximal acht Wochen dauernden Hitzeschwall in der Regel auch mit zwei Kleidern und viel Nacktschlafen überstehen – aber dieses Jahr?

Die Nächte, in denen ich schwitzend irgendwo vor mich hinvegetiert habe, ich kann sie nicht mehr zählen. Am liebsten wär’s mir, wir hätten schon Herbst.

Was mich trotz der brütenden Hitze begleitet hat, war nicht nur die Gesichtssonnencreme mit LSF 50, sondern auch ein paar Bücher.

Es folgt das altbewährte Prinzip. Ich schreibe frei von der Leber weg, welche Bücher ich fertiggelesen, und welche ich wieder weggelegt habe.

Los geht’s.

Gelesen

Susann Sitzler: Freundinnen

Mein absoluter Favorit für den Sommer, den ich jedem empfehlen kann, der sich schon mal Gedanken über gute und schlechte Freundschaften gemacht hat, und was den Unterschied auszeichnet. Das Buch liest sich ruck zuck weg, man kann sich sehr gut in die autobiografisch geschilderten Abschnitte einfühlen und muss immer wieder nicken: „Ja, genau, so eine Person habe ich auch schon einmal in mein Leben gelassen. Gut, dass sie da ist/nicht mehr da ist.“

Auszug:

Wie bemüht man sich aktiv um eine Freundschaft, wenn der Drang dazu nicht mehr von alleine kommt? Wie erkennt man, ob die Unlust, den anderen anzurufen, aus der Erschöpfung des Alltags kommt, aus einem verdrängten Konflikt oder aus Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben? Wie unterscheidet man, ob das schale Gefühl nach einem Treffen nur vorübergehende Ermüdung ist oder ein Hinweis, dass eine Freundin an Priorität verliert? Wie erkennt man unter all den Anforderungen des Alltags und den unzähligen Verpflichtungen, ob eine Freundschaft noch selbstständig atmet oder schon an der eisernen Lunge der Gewohnheit hängt?

Eine lebendige Freundschaft braucht Themen. Und wenn sie zu bröseln beginnt, braucht sie Mut. Das muss es gewesen sein, warum ich irgendwann aufhörte, mich um Bell zu bemühen. Wir mochten uns, aber irgendwie fanden wir keine gemeinsamen Themen. Es gab nichts, was uns beide gleichermaßen interessierte. Ein anderer Grund fällt mir nicht ein.

Melissa Broder: The Pisces

Natürlich, mein All time Internet-Darling Melissa Broder musste nach dem Winter auch im Sommer dabei sein, jetzt, wo endlich ihr erster Pop-Roman erschien. Die meisten kennen das Buch wahrscheinlich schon von Instagram, deshalb verteile ich ausnahmsweise nicht nur Lorbeeren.

Klar, „The Pisces“ ist im typisch melancholischen Ich-habe-24/7-Liebeskummer-Ton geschrieben und setzt auch wieder da an, wo es im Zwischenmenschlichen wehtut. Und trotzdem hatte ich nach etwa 100 Seiten genug von dem Gesuder über die immergleichen Themen: Männer, die einen aus welchen Gründen auch immer nicht zurückrufen. Nicht zurück lieben. Nicht das Gefühl geben, „genug zu sein“. Es ist, als ob sich die Protagonistin gar nicht von ihrem Schmerz befreien möchte, sondern absichtlich immer und immer wieder auf die heiße Herdplatte greift und Broder dabei Wortwiederholungen als literarischen Leistungssport für sich entdeckt.

Manchmal hat mich das Verhalten direkt aufgeregt. Mein Gott, du bist 38 Jahre alt, gibt es denn nichts Wichtigeres als Männer? Den Klimawandel? Freundschaften? Von mir aus, die Auswirkungen von Trumps Politik auf Venice Beach? Müssen wir wirklich ständig über deine Vorliebe für Analsex sprechen?

Fertiggekriegt hab ich es dann nur wegen Passagen wie diesen:

It’s an art to believe your own lies. Some people think you have to actively convince yourself in order to believe your own lies, but in that moment, I just didn’t know any other reality than everything being okay – no matter what he showed me. I knew only that silence and the wanting him to come up on the rock with me. I didn’t think I could be scared of anything. I just wanted him to be okay with me.

Kann man schon lesen. Vor allem, wenn man Liebesweh hat. Hört euch auch mal die Podcast-Episode auf „The Mental Illness Happy Hour“ mit Paul Gilmartin an. Da bekommt man ein ganz neues Gespür für die Autorin.

Paul Auster: Das rote Notizbuch

Klarer Fall für alle Literatur-Nerds. Das Notizbuch ist knappe 60 Seiten lang, wenn ich mich recht erinnere, und beinhaltet nicht mehr und nicht weniger als ein paar Anekdoten aus Austers Leben. Zum Beispiel, wie er Siri kennenlernte, warum es mit seiner ersten Frau nicht klappte. Diese Dinge.

Aber nichts, das mich nur annähernd berührte wie seine Romane.

Roxane Gay: Bad Feminist

OK STOP! Wenn du dich gerade fragst, wer oder was diese Roxane Gay ist und du dieses Buch noch nie gehört hast: kauf es. Kauf es und lies es und liebe es, denn es ist das Beste, was ich über den aktuellen Popfeminismus-Diskurs Slash medial inkorporierten Rassismus Slash Fat Shaming gelesen habe. Ever. Jemals. Kauft es einfach. Vertraut mir, in dieser einen Sache.

Gay schreibt über unlikebare Frauen, über schlechtes Hollywood-Storytelling das uns glaubwürdiger weiblicher Charaktere beraubte. Über Verlust, über Ängste, ausgeschlossen zu sein und doch nicht dazugehören zu wollen – und das alles mit einer Stimme, die global ihresgleichen sucht.

Auszug:

In many ways, likeability is a very elaborate lie, a performance, a code of conduct dictating the proper way to be. Characters who don’t follow this code become unlikeable. (…) Some might suggest that this likeability question is a by-product of an online culture in which we reflexively click “Like” or “Favorite” on every status update and bit of personal trivia shared on social networks. Certainly there is a culture of relentless affirmation online, but it would be shortsighted to believe that this desire to be liked, this desire to express what or whom we like, begins or ends with the internet.

What is so rarely said about unlikeable woman in fiction – that they aren’t pretending, that they won’t or cant pretend to be someone they are not. They have neither the energy for it nor the desire. Unlikeable woman accept the consequences of their choices, and those consequences become stories worth reading.

Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank

Martin Walser schreibt, wie heiße Schokolade an einem kalten Wintermorgen schmeckt. Großartig. Von innen wärmend. Der durchaus umstrittene, beinahe 90-jährige Autor (Antisemitismusvorwürfe, anyone?) hat einen Roman geschrieben, den ich nicht mehr weglegen konnte vor lauter poetischer Schönheit.

Um was es geht? Seinen Kampf mit sich selbst, und all die Kämpfe, die wir selbst gegen uns führen. Die Feinde, die wir uns imaginieren, die nur das Schlechteste in uns sehen, egal, wie sehr wir dagegen arbeiten und uns anstrengen. Immer wieder trifft er seinen Erzfeind, und seziert seine Begegnungen mit ihm in einer sprachlichen Genauigkeit, die wehtut. Weil sie zeigt, wie verletzlich selbst einer der größten Sprachkünstler Deutschlands sein kann, wenn er sich zu sehr von der Meinung des Außen abhängig macht und die gehässigen Zeilen über sich selbst liest. So gelingt ihm – wenn auch unbewusst – eine Gedankenreferenz zum aktuellen Umgang mit Hate-Speech.

Auszug:

Die, die dich erlebten, applaudierten dir schließlich. Du spucktest aus vor dir. Aber ins Taschentuch. Du sagtest: Es gibt keine Grenze der Nachsicht mit sich selbst. Und fuhrst fort mit deiner Selbstbeschimpfungsorgie. Sie tränkten dich mit Champagner. Sie tranken auf dich. Du trankst auf die, denn es schlechtgeht durch dich. Du fragtest dich: Wem gehört der Mantel, den du trägst? Wer friert statt deiner? Dann bedauertest du eher leise als laut, dass du nicht hassen könntest. Von deiner Mutter habest du nur lieben gelernt. Hassen können. Dich selbst hassen zu können, das wäre jetzt dran. Und eben dazu seist du nicht imstande. Dich selbst hassen zu können, das wäre, nach allem, was du bewirkt hast, die Erlösung.

Wieder weggelegt:

Michael Booth: The Almost Nearly Perfect People

Erstmal zur Vorgeschichte: Autor Booth ist Engländer und mit einer Dänin liiert, was dazu führte, dass er das letzte Jahrzehnt versuchte, Skandinavien zu begreifen. Und zwar wirklich – in all seinen Facetten–, und nicht nur aus der Perspektive schwedenverliebter Deutscher, die alles kaufen würden solange irgendwo „Made in Sverige“ oder „Lycka“ drauf steht und einmal im Jahr gegen Norden campen fahren um dort Fotos von süßen roten Häuschen zu posten. Etwas, was ihnen übrigens nicht den Status von Lieblings-Touristen verleiht.

Booth räumt mit Stereotypen über die „beinahe fast besseren Menschen“ auf und gliedert seinen dicken Wälzer dabei in fünf Teile: Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen und Island. Obwohl ich (aus Zeitgründen) nur die Teile über Dänemark und Schweden gelesen habe, kann ich das Buch schon deshalb empfehlen, weil es „unsere“ Sicht auf teils sehr homogene und konfliktscheue Kulturkreise offenbart, die gar nicht immer „so freundlich und süß“ sind, wie man sich das als seenverliebter Mitteleuropäer gerne ausmalt, wenn in Deutschland mal wieder politisch alles den Bach runtergeht.

Auszug:

One thing in particular about this new-found love of all things Scandinavian – be it their free-form schools, whitewashed interior design, consensus-driven political system or chunky jumpers – which struck me particularaly odd: considering all this positive PR, and with awareness of the so-called Nordic miracle at an all-time high, why wasn’t everyone flocking to live here? Why did people still of a house in Spain or France? Why weren’t they packing up their mules and heading for Aalborg or Trondheim? For all the crime literature and TV shows, why was our knowledge of Scandinavia still so abysmally lacking? How come you have no idea where Aalborg or Trondheim actually are (to be honest)? Why can no one you know speak Swedish or ‚get by’ in Norwegian? Name the Danish foreign minister. Or Norway’s most popular comedian. Or a Finnish person. Any Finnish person.

Das Buch ist 400 Seiten dick, sehr, sehr witzig geschrieben und geht dabei sowohl historisch als auch soziologisch vor. Selbst, wenn man jetzt auch wieder kritisieren könnt, dass das ja „nur ein komischer Brite geschrieben hat“, der nichts anderes tut, als vorhandene Stereotype absichtlich ins Negative zu verfrachten.

Siri Hustvedt: Die Illussion der Gewissheit

Ein Sachbuch von einer tollen Literaturwissenschaftlerin, das mich leider überhaupt nicht gepackt hat. Lag ganz bestimmt am Thema: dem Verhältnis zwischen Körper und Geist. „In ihrem anspruchsvollen philosophischen Essay ‚Die Illusion der Gewissheit’“, schreibt die NRD-Reaktion, „lobt Siri Hustvedt den Zweifel und kritisiert Neurowissenschaftler und Philosophen dafür, dass sie die von René Descartes bekannte Trennung von Geist und Körper unkritisch voraussetzen.“
„Hustvedt selbst“, so die Redaktion weiter „leuchtet vielmehr die These des sogenannten Embodiment ein. Damit ist gemeint: Bewusstsein setzt einen Körper voraus. Und ein Körper bewegt sich nun mal in der Welt und ist deshalb nicht ohne seine Umwelt zu denken. So hat Hustvedt zufolge die westliche Philosophie bisher die Geburt sträflich vernachlässigt. Dabei sei es doch fundamental, dass wir alle aus einem anderen menschlichen Körper, aus der überlebenswichtigen Umwelt der Mutter, hervorgegangen sind.“

Wer bis hierher durchgehalten und nicht eingeschlafen ist, kann gerne an der Buchverlosung in meinem Insta-Feed teilnehmen. Vielleicht gibt es ja wen, den das Thema interessiert. Ich selbst hab es nach zwanzig Seiten in der brütenden Hitze mit Kopfweh weggelegt.

Was habt ihr diesen Sommer gelesen? Empfehlt mir eure liebsten Werke in den Kommentaren.

Ich freu mich schon auf den Herbst, da kommen einige Neuerscheinungen nach der Frankfurter Buchmesse, auf die ich gewartet habe und auch sonst ist die Liste wieder lang, die ich vor mir liegen habe. Allen voran übrigens Meg Wolitzer neuestes Werk: Das weibliche Prinzip. Ein Roman über Corporate-Feminismus.

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