Das Selbsthilfe-Buch für AfD-Angehörige


Es gibt Angehörigen-Gruppen für alles Mögliche. Angehörige von Suchtkranken, Angehörige von Krebskranken, Angehörige von Kindern mit Behinderungen. Nur wo können die (nicht-rechten) Angehörigen von AfD-Mitgliedern hin, wenn sie sich nach einem versauten Sonntag wieder mal heimlich weinend auf der Toilette die Haare ausreißen müssen?
Über genau dieses Problem hat Leonie Plaar ein Buch geschrieben. Auf Instagram kennt man sie auch unter dem Handle Frau Löwenherz. Leonie ist queer, politische Aktivistin, Historikerin – und Tochter eines AfD-Mitglieds. Tatsächlich wählen fast alle ihrer nahen Verwandten die Alternative für Deutschland. Plaar berichtet eindrucksvoll von einem Alptraum, der sich in ihrem familiären Umfeld abspielt – und dem sie dadurch nicht so einfach entkommen kann.
„Vor allem ist dieses Buch für euch“, schreibt Plaar. „Für alle, die die endlosen Diskussionen kennen, den Frust, die Verzweiflung, und die sich damit unsichtbar fühlen. So oft geht es in den Medien darum, wie ungesehen und unverstanden sich die Anhänger*innen dieser rechtsextremen Partei fühlen, wenn sie für menschenverachtende Thesen »gleich als Nazi abgestempelt« werden. Darüber, was es mit den Menschen macht, die sich diese Aussagen tagtäglich aus dem eigenen Familienkreis anhören müssen, sprechen wir dagegen kaum.“
„Wir wissen zwar, dass diese Dinge an vielen (metaphorischen) Küchentischen in Deutschland von AfD-Anhänger*innen gesagt werden, aber wir vergessen gerne, dass an diesem Tisch auch jemand sitzt, der sich das alles anhören muss.“
Leonie Plaar
Leonie war einer dieser Menschen, die sich jahrelang um Kopf und Kragen redete. Die ihren Verwandten erklärte, welche Implikationen Sprache hat. Oft blieb sie mit eiserner Disziplin geduldig, lieferte Runde um Runde Erklärungen und Richtigstellungen, während ihr Erzeuger die Klischee-Hitparade abspielte. Ihr wisst schon: Er zitierte Betroffene, die angeblich kein Problem mit dem N-Wort und dem Z-Wort-Schnitzel hätten und ermahnte Leonie, auch mal „toleranter“ zu sein und andere Meinungen zu akzeptieren.
Niemandem, der selbst AfD oder FPÖ-Wähler in seiner Verwandtschaft hat, muss ich erklären, dass dieses Drängen zur Akzeptanz anderer Meinungen in Wahrheit nur zur Verschleierung von Fakten dient. „Um über unsere (unterschiedlichen) Meinungen zu einem Thema diskutieren zu können, brauchen wir erst einmal eine (gemeinsame) Faktenbasis“, schreibt Leonie ganz richtig. „In der Regel ergibt sich diese aus dem wissenschaftlichen Konsens auf dem jeweiligen Gebiet, über das diskutiert wird. Solange wir fest auf so einer Basis stehen, ist ein konstruktiver politischer Austausch möglich; fehlt sie bei einer der Gesprächsparteien jedoch, reden wir gezwungenermaßen aneinander vorbei.“
Dass Leonie Plaar wirklich alles versucht hat, um mit ihrem Erzeuger auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, zeigt sich bereits am Inhaltsverzeichnis. Nach „Ich stell ja nur Fragen“, kam gerne „Da fühle ich mich als weißer heterosexueller Mann diskriminiert“ oder auch „Ich bin ja nicht ____, aber …“.
„Die Gefahr, die von der AfD nicht nur für Minderheiten allgemein, sondern sogar für seine eigene Tochter ausgeht, scheint mein Erzeuger nicht nur zu ignorieren: Wenn er nichts dagegen tut, nimmt er sie sogar billigend in Kauf.“
Leonie Plaar
Was Leonie sich nicht vorwerfen kann: dass sie nicht ihr Bestes gegeben hat, um einst geliebte Menschen vom Wert ihres Lebens zu überzeugen. Besonders schwer fiel ihr der Kontaktabbruch zur geliebten Oma, die sich früher offen für Schwangerschaftsabbrüche aussprach und der sie sogar ihre damalige Partnerin vorstellte. Ab der Coronapandemie änderte sich das Verhältnis.
Es ging plötzlich nicht mehr bloß um die Sicherheit der Impfungen, sondern mitunter auch um die Möglichkeit einer angeblichen Unterwanderung der Weltgesundheitsorganisation und die Möglichkeit eines geplanten Bevölkerungsaustausches. Was die AfD behauptete, galt schnell als unumstößlich.
Plaar ist trotz Geschichte-Studium und tausenden (unbezahlten!) Stunden Aufklärungsarbeit an ihrer Verwandtschaft gescheitert – und zeichnet auf 180 Seiten einen Leidensweg nach, der im Kontaktabbruch aus politischen Gründen endete.
Sie konnte nicht mehr mit jemandem verkehren, dem die Mitgliedschaft in einer queerfeindlichen und rassistischen Partei wichtiger war, als die Sicherheit und Zukunft seiner Tochter.
Plaar kommt am Ende ihrer Emanzipationsgeschichte zu dem Schluss, dass sie keinen Kontakt zu ihrem Vater möchte. Aber auch, dass sie Dinge nicht einfach hinnehmen muss, wenn sie nicht mit ihrem Verständnis von Moral und Ethik vereinbar sind. Das war für Plaar durchaus befreiend.
Der Kontaktabbruch aus politischen Gründen ist eine Form von Selbstschutz und dient am Ende dem Wiederaufbau der eigenen mentalen Gesundheit. Anhand von Leonie Plaar wird deutlich, dass die Schuld nicht bei uns liegt, wenn wir uns nicht weiter mit Rechten unterhalten.
Ich persönlich war bereits seit meinem Studium der Politikwissenschaft davon überzeugt, dass ich meine Zeit nicht damit verschwenden werde. Auch Leonie investiert ihre Zeit jetzt lieber in Betroffenen-Arbeit. Eine Arbeit, die in unserer nach rechts rutschenden politischen Landschaft dringend benötigt wird.
In einer Gesellschaft, die so tut, als seien Kinder einfach nicht „tolerant“ genug, wenn sie ihren (rechten) Eltern widersprechen. Die so tut, als wären wir unseren Eltern etwas schuldig.
Leonie bricht damit mit dem Credo, dass die eigene Verwandtschaft über allem stünde. Familie? Nennt sie das schon lange nicht mehr. Sie hat sich ihren eigenen Kreis an lieben Menschen erarbeitet und zeigt, dass es möglich ist, alternativ glücklich zu werden.
Damit ist sie ein Vorbild für alle, die diesen Weg noch vor sich haben, diesen Weg gerade gehen – oder Angst haben, als Tochter oder Sohn gescheitert zu sein, wenn sie sich dem verbalen und emotionalen Missbrauch durch rechte Verwandte entziehen.
„Meine Familie, die AfD und ich“ ist ein lange überfälliges Buch für alle Überlebenden rechter Verwandten.
Danke, Leonie, für dieses Buch.
Rezensions-Exemplar von: Goldmann Verlag
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