Eltern hassen ihre Kinder immer noch am meisten

Kinderfeindlichkeit ist real. Das merkt jeder, der schon mal außer Haus unterwegs war. Erwachsene ärgern sich über laute Kinder in der S-Bahn, stören sich an Schulklassen im Museum und schnauzen den kleinen Niklas an, wenn er im „falschen Moment“ eine Frage stellt.
Moment mal.
Wer schnauzt den kleinen Niklas an?
Achso – seine Mutter? Ja dann! Solange es keine Kinderlose ist, ist alles in Ordnung. Sarkasmus Ende. Und trotzdem fühlen sich viele Debatten, die aktuell zum Thema „Kinderfeindlichkeit im Childfree Diskurs“ geführt werden, für mich genau so an.
Denn aus irgendeinem Grund sind wir in der Kinderschutzdebatte aktuell wieder bei dem Achtziger-Jahre-Vorurteil gelandet, dass es die bösen, kinderlosen Frauen sind, die Kinder hassen. Ihr wisst schon, die gemeinen Tanten und Stiefmütter.
Ja, es sind insbesondere die privilegierten, kinderfreien Frauen unserer Leistungsgesellschaft, die nicht ordentlich mitanpacken beim Feminismus! Kindern keinen Platz im öffentlichen Raum gewähren, Kinder von ihren Hochzeiten ausladen und gegen die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz sind. (Nicht.)
Dabei müssten wir nur einmal in die Statistik schauen, um zu sehen, wer Kinder in Deutschland eigentlich am meisten hasst. Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen hat im Jahr 2023 einen neuen Höchststand erreicht: Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, stellten die Jugendämter bei mindestens 63.700 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt fest. Und das sind die dokumentierten Fälle.
Die betroffenen Kinder waren im Schnitt 8,2 Jahre alt. Während bis zum Alter von 12 Jahren Jungen etwas häufiger von einer Kindeswohlgefährdung betroffen waren, galt dies ab dem 13. Lebensjahr für Mädchen. Die meisten betroffenen Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Elternteilen (39 %) oder beiden Eltern gemeinsam (38 %) auf. 13 % lebten bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft und 10 % in einem Heim, bei Verwandten oder in einer anderen Konstellation.
Neue Ergebnisse zeigen nun auch, von wem die Gefährdung des Kindes – ausschließlich oder hauptsächlich – ausging: In 73 % aller Fälle war das die eigene Mutter oder der eigene Vater. In weiteren 4 % war es ein Stiefelternteil, die neue Partnerin oder der neue Partner eines Elternteils und in 6 % eine sonstige Person, etwa eine Tante, ein Trainer, der Pflegevater oder die Erzieherin.
Uff. Diese Zahlen sprechen eine sehr klare Sprache. Es ärgert mich, und es macht mich traurig, wie viele Kinder jedes Jahr in Deutschland unnötigerweise von ihren eigenen Eltern schwer misshandelt werden. Nur in 6 Prozent der Fälle war der Täter eine „sonstige Person“.
Let’s be real here: Eltern hassen ihre Kinder immer noch am meisten. Sie sind es, die ihre Kinder statistisch gesehen am häufigsten schlagen, ihnen Essen verwehren, sie herabwürdigen und sexuell missbrauchen.
Wie kann es also sein, dass ausgerechnet jenen, die keine Kinder haben, gerne laut und pauschal unterstellt wird, Kinder zu hassen?
Vielleicht liegt das an einem psychologischen Mechanismus, der bequemer nicht sein könnte: die gute alte Projektion. Solange die Schuld an einer kinderfeindlichen Gesellschaft auf „die anderen“ – also auf kinderlose Menschen – abgewälzt wird, bleibt die Elternrolle unangetastet.
Man schützt das eigene Selbstbild, indem man alle Fehler der sogenannten Out-Group zuschreibt: den vermeintlich kalten, karrierefixierten, bindungsgestörten Kinderlosen. So muss man sich selbst weniger mit dem eigenen Verhalten gegenüber Kindern auseinandersetzen.
Die Botschaft: Eltern sind automatisch die Guten – allein durch die Tatsache, dass sie Eltern sind. Sie lieben ihre Kinder. Immer. Mehr noch: Nur sie alleine wissen, was Kinder brauchen. Und wenn ein Kind leidet, dann muss das an äußeren Umständen liegen – an der Gesellschaft, an der Politik, an der rücksichtslosen Tante. Nur nicht am eigenen Verhalten.
Aber diese Erzählung hält leider der Realität nicht stand. Wie bei häuslicher Gewalt gegen Partnerinnen findet der Großteil der Gewalt gegen Kinder im engsten Umfeld statt. Nicht anonymer Hass von außen ist das Hauptproblem – sondern die ganz reale Vernachlässigung, Abwertung und Gewalt durch Menschen, die eigentlich für Schutz und Geborgenheit sorgen sollten.
Und trotzdem wird das Stereotyp, dass kinderfreie Menschen Kinder hassen, weiter zementiert. Als ob es keine kinderhassenden Eltern, und keine kinderliebenden Kinderfreien gäbe.
Übrigens: Wer jetzt denkt, ich hätte nur ein paar Statistiken und eine Meinung – falsch gedacht. Die Belege stapeln sich inzwischen meterhoch. Nicht nur in den Meldungen der Jugendämter, sondern auch im kulturellen Gedächtnis.
Dass die eigene Familie eben kein Schutzraum war – sondern die erste Arena für psychische und körperliche Gewalt. Zuletzt etwa in Eamon Dolans „The Power of Parting“ (Mai 2025), einem schonungslosen Buch über den endgültigen Bruch mit seiner gewalttätigen Mutter.
Oder auf dem Substack „Bad Mothers“, wo sich die Wissenschaftlerin und Autorin Monica Cardenas klug und analytisch mit dem Topos der Mutter-Tochter-Entfremdung auseinandersetzt.
Diese Texte sind unbequem. Aber sie zeigen: Elternschaft ist kein Garant für emotionale Reife. Kinder zu bekommen bedeutet nicht automatisch, ihnen gutzutun.
Solange jedes Jahr in Deutschland an die 30 Kinder durch ihre Eltern getötet werden (TU Dortmund), sollten Eltern lieber mal genauer bei anderen Eltern hinsehen, statt aus der Ferne mit dem Finger auf die mysteriösen Kinderlosen zu zeigen.
Eine kinderfeindliche Gesellschaft wird nicht von Kinderlosen alleine gemacht. Es sind potenziell alle Erwachsenen daran beteiligt.
Eltern, und Nicht-Eltern, Patentanten und biologische Tanten; alle, die nicht hinsehen, wenn der Vater des Spielkameraden bei der Grillfeier ein bisschen zu fest ins Gesicht des Nachwuchses greift; alle, die ganz stolz behaupten, dass sie andere Kinder als die eigenen als nervig empfinden und diese Aussage nicht als Teil des Problems sehen.
Foto von Chevanon Photography
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