Für alle, die mit einer osteuropäischen Mutter groß wurden – Zerbrichmeinnicht von Sibylle Reuter


Autofiktion ist inzwischen mehr als nur ein „Trend“ – sie ist der dominierende Sound der letzten anderthalb Jahrzehnte literarischer Fiktion. Durch sie lässt sich etwas scheinbar Banales wie ein Tagebucheintrag durch bewusste Verkünstlichung in anspruchsvolle Literatur verwandeln, in Sprache, die gleichzeitig persönlich und universal ist. Und genau das hat Sibylle Reuter mit ihrer eigenen Lebensgeschichte getan – und sie als Debütroman im Leykam Verlag veröffentlicht.
Zerbrichmeinnicht erzählt vom Aufwachsen eines jungen Mädchens im sozialistischen Bulgarien der Achtzigerjahre, vom Traum eines besseren Lebens – beim Vater in der DDR, später in Österreich – und von der Frage, wo dieses Zuhause eigentlich liegt, wenn man zwischen alter und neuer Welt aufwächst; zwischen gelben Lebensmittelcoupons und Trachten-Jäckchen, „Deutschspielen“ im DDR-Kindergarten und Ausländerin-Sein.
Reuter schreibt in zarter Tonlage über blaue Flecken auf Hintern, Сарми (Sarmi) zum Abendessen und eskalierende Weihnachtsstreits zu zweit. Zerbrichmeinnicht ist ein Roman über das Aufwachsen in Armut mit einer alleinerziehenden Dolmetscher-Mutter, die sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ihr Kind es einmal besser haben soll.
Nur: Wie soll das gelingen, wenn die Beziehung zur Mutter von Co-Dependency, Schuldgefühlen und unbewältigter Vergangenheit durchzogen ist? Wie soll ein Kind frei werden, wenn es permanent auf die verletzten Gefühle der Mutter Rücksicht nimmt, die sich nicht scheut, es mit älteren Herren aus Schwechat zu verkuppeln?
Leider, auch im heiligen Österreich – bei den „gstopften Verwandten“, wie Oma sie nennt – wird für Sibylle nichts automatisch besser, nur, weil der Westen nach Familie klingt. Ihr (bulgarischer) Onkel weigert sich nach dem Ende des kommunistischen Staates, Schwester und Nichte bei sich aufzunehmen.
Von Verwandtschaft bleibt nur das, was man anziehen kann: die getragenen Klamotten der älteren Cousine.
Zerbrichmeinnicht ist eine Geschichte von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wut, die Sibylle Reuter mit enormer Sensibilität und erzählerischer Präzision aufzeichnet. Sie belehrt nicht, sie klagt nicht an – sie beschreibt. Die emotionale Deutung überlässt sie uns Leser:innen. Sie gibt uns die Chance, uns in ihre Position hineinzuversetzen.
Im Kern ist Zerbrichmeinnicht ein Roman über eine Beziehung, die viele Frauen mit osteuropäischer Mutter sofort wiedererkennen werden: die zwischen einer traumatisierten Frau und ihrer ebenso traumatisierten, osteuropäisch sozialisierten Tochter.
Eine Beziehung, die kaum gesund sein kann, solange Alkohol, psychische Krankheiten und unausgesprochene Gewalt zwischen den Generationen stehen. Beim Lesen habe ich immer wieder eine Art Muster erkannt – ein Skript, das auch meine osteuropäische Mutter manchmal abgespielt hat, wenn sie nicht weiterwusste.
Reuter schafft das Unmögliche: Faszination zu wecken für ein Land, das ihr heute selbst fremd ist. Empathie zu haben für eine Mutter, die ihrer Tochter vermutlich mehr genommen, als gegeben hat. Und trotzdem ist etwas aus der kleinen Sibylle geworden, könnte man sagen – eine gestandene Frau, die in Valencia, Shanghai, Graz und Wien gelebt hat.
Was sie das gekostet hat, sieht man ihr nicht an. Man spürt es nur, wenn man diesen dichten, berührenden und – ja – wunderschön geschriebenen Roman selbst liest.
Zerbrichmeinnicht, Sibylle Reuter. Leykam Verlag
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