Ich bin vermutlich nicht die Einzige, die in ihren Zwanzigern nur so vor Projekten untergegangen ist. Da war das Studium, und dann war da das zweite Studium. Der Mann, mit dem ich während dieser eigentlich so „unbeschwerten“ Zeit in Wien zusammen war. Seine Probleme, die irgendwann zu meinen wurden.

Nach der Beziehung musste ich mich zweieinhalb Jahre lang davon erholen. Während dieser Zeit bin ich von Wien nach Hamburg und dann von Hamburg nach Berlin gezogen, habe auf dem Weg ein sehr nettes Herz gebrochen, meine erste Journo-Festanstellung mit voller Wucht und halber Absicht gegen die Wand gefahren (not sorry) und bin bei einem dänisch-schwedischen Food-Start-Up eingestiegen, das im Sommer 2017 pleite ging.

Und das waren gerade mal die Jahre zwischen 21 und 25, die ich hier grob angerissen habe.

Danach kam eine Fernbeziehung Berlin-Stockholm, Buch 1 und Buch 2 und das Unterrichten an verschiedenen Instituten. Das Ding ist: Ich könnte ewig so weiterschreiben, aus jedem vergangenen Vierteljahr die heftigsten Abbieger und Lichtblicke heraustrennen wie Nähte, um sie zu einem Flickenteppich aus erlebter Anstrengung zusammenzupuzzlen.

Okay, zugegeben: Vermutlich können sich jetzt nicht alle fellow Thirty-Everythings mit diesen Absätzen identifizieren. Die urbanen Großstädter mit internationalen Karriereambitionen aber vermutlich sehr sicher schon. Zumindest ein bisschen ging es doch den meisten so, oder? Von hier nach da umgezogen, erstmal nur auf einer Matratze geschlafen und zu viel Billigwein gesoffen. Ein Praktikum in London, ein Traineeship in München gefolgt vom ersten “großen (Ausbeuter) Gig” in Großstadt deiner Wahl.

Wir alle haben trotz unserer Privilegien einiges, was Heimat und Zufriedenheit bedeutet, geopfert: Alte Freundschaften, die auf dem Weg zum vermeintlichen Ziel im Transit liegengeblieben sind. Wir haben unsere Eltern vernachlässigt, unsere Körper für herausragenden Content stundenlanger Bürostuhlarbeit ausgesetzt und müssen jetzt zur Strafe abends ein TENS-Gerät tragen (don’t ask, … google) um am nächsten Morgen wieder aufzukommen.

Was it worth it?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht? Was ich weiß, ist, dass ich vorhin bei einem langen Spaziergang mit mir selbst feststellen konnte, dass mir mein DRIVE abhandengekommen ist. Der DRIVE, unbedingt etwas jetzt sofort weiterzubringen. Ich habe den inneren Stress verloren, der mit einem großen Projekt zwangsläufig einhergeht.

Ich möchte gerade nichts „voranbringen“. Ich habe gerade keinen „Traumjob“, auf den ich hinarbeite und auch nicht das Ziel, die Millionenshow zu gewinnen (Grüße an Alicia). All diese Ideen, die ich mit 24 vielleicht einmal hatte, fasse ich inzwischen vor jeglicher weiteren Exekution unter einem Ober-Adjektiv zusammen: A.n.s.t.r.e.n.g.e.n.d.

Nochmal 23 sein und mit dem Chefredakteur eines komischen Wiener Magazins frühstücken gehen für ein paar unbezahlte Artikel? Hell no. Noch einmal zum beruflichen Neustart nach Stockholm ziehen? Auf gar keinen Fall. Wenn ich mir manche Szenarien nur vorstelle, wird mir ganz übel.

Klar, theoretisch hätte ich schon noch iiiiirgendwie Lust auf eine eigene Firma, die eine sozial wertvolle Dienstleistung für Frauen anbietet. Aber an die Umsetzung mag ich gerade lieber nicht denken. Dafür bräuchte man nämlich wieder einen Steuermenschen, ein ordentliches UX/UI, vielleicht eine App, Service-Mitarbeiter, Social Media – you name it. Kein Bock einfach.

Ähnlich ging es mir mit meinem Buch #3. Ich schrieb 110 Seiten. Danach wollte ich das Ding nicht mehr anfassen, verändern oder gar zu Ende bringen. Wenn ich ehrlich bin. Und wisst ihr was? Es war nach einer zweitägigen Trauerperiode völlig okay so. Aktuell erheitert mich nichts so sehr (ok, außer vl das baldige Ende der Pandemie), als kein Buch bis Juni fertig lektorieren zu müssen.

Für was sind die Dreißiger dann da, wenn nicht die nächsten große Karriere-Projekte?

Ich dachte darüber nach, was ich jetzt mit dieser Dekade machen möchte. Ob es etwas gibt, dass ich unbedingt erreichen möchte. Die Antwort lautet: nein. Mit einer Ausnahme: Ich möchte frei über meine Zeit bestimmen. Ich möchte in meiner Freizeit nicht ständig an neuen Ideen tüfteln. Ich möchte ins Schwimmbad gehen, und zwar unter der Woche, ohne ein Lehrbuch mitzuhaben oder irgendwelche Texte von anderen korrigieren zu müssen (außer die von meinem Team of course!!11).

Ich möchte mit Freunden telefonieren, ohne, dass daraus eine Podcast-Episode wird. Ich möchte in den Urlaub fahren und keine Bücher rezensieren. Ich möchte einfach nur gammeln, wandern und in die Luft schauen.

Ich möchte es zelebrieren, meine Ambitionen – für wie lange auch immer – verloren zu haben. Denn gleichzeitig habe ich dadurch auch so vieles gewonnen, dass ich gar nicht mehr kannte: Instagram ohne Szene-Beef. Neidfreies Lesen anderer Autorinnen. Zeit für das Schneiden meiner Zehennägel. Alle Staffeln von Selling Sunset. Usw. etc. pp.

Wie wäre es also, sich nach der (hoffentlich) stressigsten Dekade seines Lebens einfach mal ein bisschen Leben zu gönnen? Ohne der ständigen Anxiety, irgendwo nicht rechtzeitig hinzukommen. Ganz ehrlich? So schön ist es ganz oben eh sicher nicht.

Schaut euch einfach mal die Kommentare zu den wichtigen Leuten dieses Landes an und ihr wisst Bescheid.

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