2018. Was für ein Jahr. Und um die Weihnachtsfeiertage ging’s dann erst richtig rund beim Spiegel. Claas Relotius’ Bauchlandung war DIE Schocknachricht für alle Vertreter des „ordentlich“ recherchierten, preisgekrönten, stilistisch aufgeblähten Coverstory-Journalismus. Schonungslos zeigte sie einer Branche voller intransparent verbandelter „Ich war an der Nannen-Schule und sag dir, wie man schreibt “-Wichtigtuer den Mittelfinger und läutete damit eine neue Ära der Bescheidenheit und gerechter Jobvergabe ein. Schön wär’s!

Als ehemalige Journalistin, die selbst ein Jahr lang im SPIEGEL-Gebäude an der Ericusspitze ein- und ausging, um für die hausintern und (ok, auch extern) verschmähte Jugendsparte im Erdgeschoß zu schreiben, hat mich der Fall ehrlich gesagt gar nicht so stark überrascht. Ich erinnere mich noch gut.

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Jeden Donnerstag wurde uns das SPIEGEL-Heft auf die Schreibtischtastatur gelegt, damit wir etwas hatten, woran es sich zu glauben lohnte.

Der SPIEGEL, er war für viele der heilige Gral des traditionellen Journalismus. Wer für ihn schreiben durfte, musste wenn nicht gleich Gott, dann zumindest ein Genie sein.

Ambitioniert wie ich war, habe ich alle Hefte stets brav nach Hause getragen, um sie dort ungelesen in einer Ecke vergammeln zu lassen. Besonders angesprochen hat mich die szenische Schreibe des Spiegels nie, aber wer traut sich schon, eine renommierte Institution zu kritisieren, wenn er bis vor Kurzem noch First-Person-Journalism aus dem Kinderzimmer betrieb?

Ohne den Hochstapler Relotius verteidigen zu wollen: Die Journalismus-Branche ist eine der härtesten, die man sich vorstellen kann. Sie ist nicht nur gnadenlos konkurrenz- und neidgetrieben, sondern strotzt trotz Akademisierung nur so von Kritikresistenz („Das haben wir immer schon so gemacht!“), Egozentrismus („Meine Story ist die Beste!“) und neurotischen Grenzgängern, denen man am liebsten für ihr eigenes Seelenwohl Twitter wegnehmen würde. Wer nicht konstant liefert, ist schnell weg vom Fenster. Wer sich nicht bei jeder Story übertrumpft, gilt als Durchschnitt.

Marvin Schade hat etwas Kluges auf Meedia zum Thema geschrieben: Es bleibt „die Frage, ob der Geschichtenfälscher allein das Problem ist oder nicht etwa auch die ausgelobten Preise mit ihren Kriterien und dem Hang zu stilistischen Manierismen.“

Word! Wer sich sträubt, Texte nach Schema F zu produzieren, wird in einer Redaktion gerne als Amateur verschmäht. Wer keine szenischen Einstiege mitbringt (“Das Geschirr klirrt. Hinter den Tellern kramt sie nach der Tupperbox. Daneben brennt der Reis schon fast im Topf an. Zwei Jahre ist es nun her, dass Alexandra* jeden Morgen vor Dienstbeginn noch hastig ihr Mittagessen kocht”), muss eben welche erfinden. Wie oft mir schon Texte zurückgeworfen wurden, weil ich nicht bereit war, meine Protagonistinnen in einer aufgebauschten Einstiegsszene „lebendiger“ zu machen, als sie waren!

Anders als viele Medienmenschen bin ich nicht unbedingt der Meinung, dass die „Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Korrektheit eine unbestrittene Stärke des deutschsprachigen Journalismus“ ist. Für viele Migrantinnen und Außenseiter war der deutschsprachige Edelfeder-Journalismus in den letzten Jahren vor allem eines: elitär, unzugänglich und realitätsfern.

Weiße Mittelschichtskinder mit guten Deutschnoten traten jedes Jahr bundesweit von Neuem an, um die immergleichen Geschichten aus deutscher Mittelschichtsperspektive zu erzählen.

Das Gründen von Start-Ups, erfolgreiche Mamas und Papas, Design-Klassiker, auf die man 2017 unbedingt ein Auge haben sollte. Urlaube. Wenn über „soziale Brennpunkte“ oder Klassismus geschrieben wurde, dann oft, ohne die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Eine Studie an der TU Dortmund zu Berufsperspektiven junger Journalisten mit Migrationshintergrund zeigt es schwarz auf weiß: Zum Zeitpunkt der Untersuchung lag der Anteil an ausländischen Journalisten in Deutschland bei vier bis fünf Prozent.

Vier bis fünf Prozent.

So wundert es wenig, dass der deutschsprachige Journalismus nicht nur seinen Protagonisten gegenüber bevormundend („Sie hatten keine Wahl“) agiert, hierarchisch und intransparent organisiert ist, sondern Jobs auch gerne an diejenigen vergibt, die irgendjemandem nahe stehen oder schon mal pflichtbewusst ein unbezahltes Praktikum absolviert haben. Oft erfährt man als Quereinsteiger gar nicht, oder erst zu spät, dass Jobs ausgeschrieben wurden. Es gibt geschlossene Netzwerke, in die man nur mit Einladung oder Abschluss der richtigen Schule hineinkommt und wer denkt, dass er eine leitende Position ohne Journalistenschule bekommt, kann lange warten.

Medienjournalist Hans-Peter Siebenhaar schreibt sehr richtig: „Mit seinen offenbar ersehnten Wahrheiten kam Relotius beim Spiegel durch. Das kann nur gelingen, wenn eine ungestillte Gefallsucht nach schönen Geschichten den gesunden Menschenverstand in der Chefetage ersetzt.“

Was mich am Journalismus schon immer störte, war der Spruch „Wo ist die Geschichte?“ in der Morgenkonferenz und der Druck, der damit einherging. Jeden Tag, jede Woche, jedes Monat sollen Journalisten neue, bahnbrechende und auch noch dramaturgisch spannende Geschichten über Menschen finden, die sie nicht kennen.

Statt Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen, wurde in diversen Preisverleihungen auch 2018 weiterhin krampfhaft an verstaubten journalistischen Darstellungsformen wie der Reportage festgehalten, statt auch mal einen Blick über den Tellerrand zu wagen.

Vieles, das anderswo stilistisch längst zeitgemäß wäre, wird in Deutschland erstmal missachtet, als weinerliche Nabelschau-Ichbezogenheit verabscheut, als Befindlichkeitsjournalismus.

Aber wenn die großen Reporter selbst losziehen und verzweifelte Protagonisten für ihre gute „Gschicht“ vor die Kamera zerren, Pardon, erfinden, dann ist das natürlich lobenswert. Dann darf applaudiert werden, dass da jemand „ganz genau“ hingesehen hat. Selbst, wenn die Einzelheiten nicht stimmen: wer ist schon scharf darauf, die Worte Machtloser zu überprüfen?

Nun stellt sich – wie wir inzwischen alle wissen – heraus, dass Relotius seine Geschichten manipuliert hat, um den erwartenden Zuspruch der Zielgruppe zu ernten und Magazine zu verkaufen. Ich frage mich: glaubt die Branche wirklich, nach all der Evidenz, Relotius sei der Einzige? Ein Ausrutscher? Ein unglücklicher Zufall? Und: würde sich eine Frau aus der Branche dasselbe trauen? Würde sie sich jahrelang für Stories auszeichnen lassen, die sie wie einen guten Krimi verdichtet – aber nicht selbst gehört oder ausreichend recherchiert hat? Ich bezweifle beides.

Meine Prognose: Bis „die da oben“ von ihrem hohen Ross runtersteigen, sind Magazine wie der SPIEGEL ausgestorben. Sei’s drum. Wir haben immer noch dieses Internet.

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