Dieses Buch ist dank all jenen entstanden, die mich
in den ersten fünfundzwanzig Jahren meines Lebens
begleitet haben: den Verstorbenen, den Verachteten,
den Entwürdigten.

Für immer in meinem Herzen,
für immer in meinen Armen.

* * *

Schon bei der Widmung von “Auf uns gestellt” wird mir ein bisschen übel und gleichzeitig warm ums Herz. Das, was jetzt kommt, wird keine einfache Lektüre.

Denn D Hunter ist keiner dieser nervigen Upper-Class-Journalisten, die aus der finanziell abgesicherten Ferne einen mittelmäßigen Roman über die Unterschicht schreiben und sich dabei ironisch-distanziert über sie erheben. Hunter steckte mittendrin in einer Welt, die die meisten Mittelschichtskids nicht einmal aus dem Fernsehen kennen.

Als Kind vom Großvater vergewaltigt, vom Vater verprügelt und von der Mutter im Stich gelassen wächst Hunter zu einem, wie man im Boulevardjournalismus sagen würde, gewaltbereiten Problemfall auf. Einem wütenden, kleinen, weißen Jungen, der seine Freundin schlägt, Drogen verkauft, Autos knackt, im Gefängnis landet. Solche Dinge. Klischee olé.

Aber diese Kategorisierung in Gut und Böse, in schwarz und weiß, in vertrauenswürdig und suspekt, diese Bevormundung der Bourgeoisie, der Sozialarbeiter und Psychiater lässt Hunter nicht einfach so stehen.

Stattdessen setzt er sich als – inzwischen cleaner – Anfang-Vierzigjähriger an den Schreibtisch, um ein Buch über all die Probleme zu schreiben, die ihn letztlich in diese Situation führten.

„Zum größten Leid, das Darren und mir zugefügt wurde, gehört nicht nur der sexuelle Missbrauch, sondern dazu gehören auch der Missbrauch und die Traumata, die durch das soziale und wirtschaftliche System ausgeübt und verursacht wurden.“

Statt seine Vorfahren zu verurteilen, versucht er die Strukturen, unter denen sie selbst Missbrauch erlebten, mit Hilfe seiner Erinnerungen und politischen Schriften zu dechiffrieren.

* * *

Heute ist Hunter Schriftsteller („so absurd das auch scheinen mag“), und wird auf Lesereisen immer mit derselben Art von Frage belästigt. Natürlich meist von weißen Personen, die versuchen sich in ihren Sozialarbeiterjobs persönlich weiterzuentwickeln, indem sie vernachlässigten Kindern helfen.

Sie fragen ihn, wie man denn Kindern wie ihm heute helfen könne. „Aber je länger das so geht“, so schreibt Hunter, „desto mehr will ich die Fragenden am liebsten daran erinnern, dass sie sich, wenn sie aus wirtschaftlich abgesicherten Familien und Communitys stammen und beruflich für staatliche Institutionen arbeiten, gar nicht in die Probleme einzumischen haben, auch wenn das zu ihrer Jobbeschreibung gehört. Dass sie oft in generationenübergreifenden Traumata herumstochern, die durch jahrzehntelange gewalttätige wirtschaftliche und soziale Marginalisierung verursacht wurden, durch ein politisches System, von dem sie profitieren und reproduzieren.“

Amen. An dieser Stelle wollte ich Hunter eigentlich persönlich für seine Schärfe gratulieren.

* * *

D Hunter “Auf uns gestellt”: Welches Genre bedient Hunter?

„Auf uns gestellt“ ist kein Sachbuch, sondern eine Autoethnografie – ein Begriff, den Hunter gleich zu Beginn des Buchs einführt. Der Zweck einer Autoethnografie ist es, die akademische Forschung durch ein anregendes, emotionales, dialogisch und fesselnd verfasstes Schreiben zu bereichern, das näher an Literatur und Kunst, als an der Wissenschaft angesiedelt ist.

Bevor ich den Begriff kannte, hätte ich gesagt, „Auf uns gestellt“ ist eine unfassbar packende Essaysammlung einer armutsbetroffenen Person, die weder Lobeshymnen zu ihrem Aufstieg hören, noch die Opferrolle einnehmen möchte. Eine schonungslos ehrliche Essaykollektion zu internalisiertem Rassismus, Drogenkonsum, Obdachlosigkeit, psychischem und physischem Missbrauch und der Bewältigung der eigenen Traumata.

Was „Auf uns gestellt“ so besonders macht, ist, dass Hunter nichts auslässt, um vor seinen linken Kolleginnen besser dazustehen. Merkt man unter anderem am Essay Valerie, wo er seiner Exfreundin nachträglich dafür dankt, die Grundsteine dafür gelegt zu haben, dass er heute in der Lage ist starke Verbindungen der Fürsorge zu knüpfen.

„Ich hatte sie nicht nur geschlagen, um meine Macht über sie auszuüben, ich hatte mich, wenn auch unbewusst, auch geweigert, für sie da zu sein“, schreibt er.

„Ich reproduzierte die mir vertrauten patriarchalen Muster. Ich nahm mir von ihr, was ich brauchte, und weigerte mich, etwas von mir preiszugeben, das mich verwundbar machen würde.“

Valerie hatte Notoperationen an ihm durchgeführt und die abgetrennten Verbindungen zu Fürsorge, Empathie und Liebe wieder angenäht, die während seiner Kindheit weggerissen worden waren. Sie tat all das, während sie versuchte, Teile ihres eigenen Selbst zu reparieren.

Es gibt wenige Autoren, die diese schambehafteten Erfahrungen in ein Non-Fiction-Werk verpacken würden.

Die meisten würden sich einen neuen Namen zulegen, den Dreck unter den Deckmantel der „Fiktion“ packen und damit Millionen machen.

Hunter hingegen kämpft immer noch darum, gelesen zu werden. Nicht, um Anerkennung für sein unerkanntes Genie zu erfahren, sondern uns – die angeblich so vereinte Linke – darauf aufmerksam zu machen, wie sehr wir unsere Rolle bei der Reproduktion der gewalttätigen sozialen Systeme, in denen wir leben, kleinreden. Er tut dies bewusst in seiner eigenen Sprache, ohne im marx’schen Jargon hängenzubleiben.

“Wir sagen, wir wollen, dass »unsere« Klasse sich wehrt und die Kapitalistenklasse zerschlägt, aber wir verhalten uns so, als ob alle beim selben Punkt einsteigen können. Wir haben soziale Zentren, die nicht rollstuhlgerecht sind. Bei unseren Treffen stellen wir nur selten Kinderbetreuung und Essen zur Verfügung.

Der Umgangston und die Emotionen in der Kommunikation werden streng kontrolliert. Der Person, die auf eine Art und Weise schreit oder weint, die nicht zur jeweiligen Genderidentität passt, wird unzweideutig klargemacht, dass sie eine Grenze überschritten hat und sich bessern muss.”

Die meisten politischen Treffen, bei denen ich in den letzten fünfzehn Jahren war, haben panische Angst vor Abweichung, insbesondere vor Unterschieden, die ein Machtungleichgewicht hervorheben. Doch wenn wir diese Unterschiede nicht anerkennen und keine Wege finden, um uns direkt mit ihnen zu befassen, verraten wir die sozialen Bewegungen »unserer« Klasse.

D Hunter “Auf uns gestellt” Fazit: Das Streben nach transformativer Gerechtigkeit

D Hunter fordert nichts weniger als transformative Gerechtigkeit. Denn Klassenverrat, mit seiner Unzahl an verschiedenen Formen, verursacht: Leid. Dieses Leid wird nicht nur einzelnen Individuen zugefügt, sondern ganzen Communitys und Bewegungen.

„Unsere Communitys, wie auch immer sie definiert und geformt werden“, schreibt Hunter, „sind durch dieses Leid verwüstet worden.“ Laut Hunter haben wir keine andere Möglichkeit, als sie mit unserer ganzen Kraft wiederaufzubauen.

Was fehlt, sind die Ressourcen: das Geld, die Gebäude, die Zeit. Armutsbetroffene arbeiten oft zu einem Mindestlohn, oder nur auf Abruf, haben zwei oder drei Jobs und kümmern sich gleichzeitig um ihre Nachbarinnen, Schwestern, Väter, Kolleginnen, Brüder, Mütter, Freunde und andere Menschen in der Community. Einige tun das sogar, während sie sich mit ihren eigenen Traumata herumschlagen.

Hunter plädiert mehrmals dafür, ebenjene Ressourcen zu erhalten, die derzeit an Expertinnen mit Lehrbuchwissen und auf ihre Karriere schielende Profis verschwendet werden, die Communitys nur aus einer Außenperspektive heraus verstehen und nur dazu da sind, sie „aufzuwühlen, zu untersuchen und Berichte zu schreiben.“

Trotz all der Erfolge, die seine Hunters Essays inzwischen feiern, bleibt er Realist. Menschen würden einander weiterhin verletzen und Schaden zufügen. Es sei daher an uns, neue Wege zu finden, wie wir uns selbst und unsere Communitys umformen können, während wir gleichzeitig daran arbeiten, die Rolle von Staat und Kapital in unserem Leben auszulöschen. 

 

D Hunter (2023): Auf uns gestellt. Armutsklasse, Trauma und Solidarität. Edition Nautilus.

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