„Ohje“, war mein erster Gedanke. „Warum braucht es schon wieder einen neuen Namen für ein altes Phänomen?“ Nach „Quiet Quitting“ haben wir jetzt also: „Rage Applying.“ Eine Taktik, bei der es nicht darum, eine sorgfältig formulierte Bewerbung an ausgewählte Unternehmen zu schicken, sondern sich bei vielen, teils Dutzenden verschiedenen Arbeitgebern gleichzeitig zu bewerben.

Und ja, I get the impulse. Nichts ist Frustrierender, als morgens an einen Arbeitsplatz zu fahren, den man hasst. Zuerst awkward smalltalk in der Küche zu führen, um danach komische Meetings mit unlogischen Briefings zu attenden. Kein Purpose, kein Fun, kein gutes Gefühl in der Magendarmgegend. Da kann es ganz schön befreiend sein, sich einfach mal wild draufloszubewerben. Am besten während der bezahlten Arbeitszeit (eheheh).

Ich muss gestehen: Genau das habe ich auch schon einige Male getan. Irgendetwas in meiner Selbstständigkeit oder Festanstellung funktioniert nicht? Ok, erstmal Jobs suchen, auf die ich keinen Bock habe!

Erstmal zwei Stunden auf LinkedIn surfen, um mich mit 1-Click-Applications bei Firmen zu bewerben, von denen ich noch nie etwas gehört habe, und an die ich mich später – wenn die Absage kommt – nicht erinnern werde.

Rage Appyling bedient dabei einen simplen Belohnungsmechanismus des Gehirns: Wenn ich mich bewerbe, habe ich etwas „geschafft“. Wenn ich mich bewerbe, dann ist es „ein guter Tag“, dann kann ich ein Häckchen bei bei meiner To-Do-List setzen. Die Instant-Gratifikation führt dazu, dass man glaubt, auf dem richtigen Weg zu sein – obwohl man sich in Wahrheit auf dem Glatteis zum nächsten Corporate Ausbeuterjob befindet. Egal. Es fühlt sich einfach zu gut an, von einem anderen Office, einem anderen Boss, anderen Kollegen und anderen Tätigkeiten zu träumen.

Das Problem beim Rage Applying ist nicht die theoretische Emanzipation des Arbeitnehmers, die damit einhergeht, sondern die fehlende Reflexion des eigentlichen Problems.

Ich kann mich noch gut erinnern, als ich mich in Rage-Manier bei einem Parfümladen (?!) bewarb, weil ich eine Absage auf irgendein Freelance-Projekt kassierte. Statt langfristig zu denken und zu überlegen, mit welchen Dienstleistungen ich wirklich mein Geld verdienen möchte, habe ich den erstbesten Laden genommen, der mir einfiel. Sie haben mich tatsächlich eingestellt, allerdings nicht in der Position, für die ich mich beworben hatte und so befand ich mich vier Wochen nach Beginn dieser Schnapsidee wieder vor einer Kündigung. Ich wusste es bereits am ersten Tag, dass das alles eine ganz, ganz schlechte Idee gewesen war, aber hey: Rage Applying felt really good, didn’t it? For 2 f*ing seconds.

Deshalb ist Rage Appyling für mich keine Option mehr. Ich würde aus heutiger Sicht im worst case eher Bürgergeld beantragen, als mich auf Stellen zu bewerben, die nicht zu meinen Skills und meiner Persönlichkeit passen. Ähnlich, wie Jobcenter nicht nur darauf setzen sollten, ihre Kandidaten i-r-g-e-n-d-w-o unterzubringen, sollten frustrierte Arbeitnehmer nicht erwarten, dass ein neues, x-beliebiges Unternehmen ihre Frustration lösen wird. Wer im Corporate-Umfeld unglücklich ist, wird das sehr wahrscheinlich auch im nächsten Corporate-Umfeld sein. Wer gerne selbstständig arbeitet, muss Trockenperioden aushalten und darf nicht der Illusion einer vermeintlich sicheren Festanstellung verfallen.

Ganz oft sollten wir statt Rage Applying lieber: Pause machen. Atmen. Innehalten. Krankenstand, ALG, Bürgergeld – es gibt Optionen, die für eine gewisse Zeit in Anspruch genommen werden können, um den Kopf frei zu kriegen und im besten Falle auch das Herz.

Ja, es fällt auch mir manchmal schwer, Perioden des geringen Einkommens zu überwinden und „wegzustecken“. Auch mich juckt es manchmal in den Fingern, den erstbesten Corporate-Teilzeitjob anzunehmen, damit ich mir am Monatsersten keine Sorgen um meine Einnahmen machen muss.

Aber der Preis, den ich dafür zahlen müsste, wäre hoch. Ich würde das verlieren, für was ich die letzten fünf Jahre gekämpft habe: Meine Freiheit.

Und die bin ich nicht bereit, aufzugeben.

Schreib mir: Hast du dich schon einmal rage applied? Was war der Outcome?

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